«Radikal digital» – So sollten Führungskräfte die Digitalisierung angehen
Dr. Reinhard K. Sprenger - Der bekannte Autor von Management-Literatur über die Grenzen hierarchischer Führung, den Umgang mit Widersprüchen und das Phänomen von «Mikroideologien» in Unternehmen.
Artikel von Claudia Obmann / Erschienen im Handelsblatt
Am Schreibtisch in seinem Büro im Schweizer Städtchen Winterthur feilt Reinhard K. Sprenger an einem Text zu «Ambiguität und Paradoxie» im Management. Und widersprüchlich ist derzeit so einiges in hiesigen Unternehmen. Da sollen auf Effizienz getrimmte Organisationen plötzlich «einfach mal machen» und «disruptiv denken»?
Da drücken Manager ihre selbsterschaffenen Hierarchien platt und fürchten, dass bald Maschinen ihre Arbeit erledigen könnten? Und das alles wegen eines Wortes: Digitalisierung? Ein Thema, zu dem natürlich auch Management-Vielschreiber Sprenger («Mythos Motivation», «Vertrauen führt») jüngst ein Buch für Führungskräfte mit klarer Meinung verfasst hat. Es heisst «Radikal digital».
Herr Sprenger, Sie behaupten: Digital kann jeder. Was meinen Sie damit?
Die meisten, die über Digitalisierung sprechen, denken dabei an ein technisches Phänomen, für das man entsprechendes Know-how mitbringen muss. Nicht zuletzt, weil Unternehmen Millionensummen in digitale Technik investiert haben. Für mich dagegen ist der Digitalisierungsprozess ein tiefgreifender sozialer Kulturwandel — fast schon eine Revolution.
Und was bitte ist daran so revolutionär?
Wir erleben das grosse Comeback des Menschen, der im Zuge der Industrialisierung immer mehr ausgegrenzt wurde, weil alles der Effizienz unterworfen wurde. Mitarbeiter wurden so immer mehr zum Lückenbüsser für das, was Maschinen nicht konnten. Diese Sichtweise wandelt sich gerade grundlegend. Ich nenne es die «drei grossen Ks»: Wiedereinführung des Kunden, der Kooperation und der Kreativität. Und das kann wirklich jeder.
Sie sind ja ein Optimist. Andere Experten malen eine eher düstere Zukunft, nämlich, dass Roboter und Algorithmen uns in Zukunft überflüssig machen.
Da mache ich mir keine Sorgen. Ich glaube vielmehr, dass die neue Technologie das Beste aus zwei Welten verbinden kann: Im Hintergrund dominiert weiterhin das Effizienzdenken. Es wird verstärkt vorangetrieben von selbstlernenden IT-Systemen, die Prozesse immer weiter optimieren, ohne dass der Mensch sich darum noch gross kümmern muss.
Bei erfolgreichen Unternehmen wird stattdessen all das in den Vordergrund rücken, was tatsächlich nur der Mensch leisten kann. Und genau diese Stärken für das Unternehmen zur Geltung zu bringen wird zur neuen Hauptaufgabe von Führungskräften.
Was soll das sein, was Computer nicht können?
Zentral ist für mich die menschliche Urteilskraft. Denn was machen Unternehmen gerade? Sie aggregieren gigantische, im Grunde nichtssagende Datenmengen. Sie gilt es, richtig zu interpretieren, vor allem Korrelation von Kausalität zu scheiden. Manager müssen daraus zukunftsweisende Schlüsse ziehen und Ideen entwickeln und dabei im engen Austausch mit anderen kreative Lösungen finden. Dabei müssen sie professionell mit widersprüchlichen Zielen umgehen, wie etwa sowohl effizient als auch innovativ zu sein — eine der grössten Management-Herausforderungen derzeit, die eine Maschine nicht bewältigt. Sie kennt ja schliesslich nur null oder eins. Entweder, oder.
Und wie muss Führung konkret aussehen, um Ihre drei grossen Ks, Kundenfokus, Kooperation und Kreativität, wiederzubeleben?
Wer den Kunden in den Mittelpunkt seines Geschäfts rücken will, muss sich zuallererst bewusst machen: Je älter Unternehmen werden, desto strukturell kundenignoranter werden sie.
Warum sollte das so sein? Etablierte Unternehmen kennen doch in der Regel ihre Kunden besser als junge und haben ihre Prozesse im Griff. Als Kunde fühle ich mich bei der Volksbank, bei der schon meine Eltern ihr Konto hatten, besser aufgehoben als bei einem Fintech-Start-up, das mein Konto in die Cloud verlagert.
Ja, meine Diagnose ist für viele Manager irritierend. Aber tatsächlich wird in den meisten Unternehmen von innen nach aussen gedacht – womit der Kunde erst an letzter Stelle kommt. Je älter Unternehmen werden, desto mehr kreisen sie autistisch um sich selbst. Sie orientieren sich an Binnenwirklichkeiten, an innen definierten Finanzzielen. Die Steigerung des Unternehmenswertes wird zum Selbstzweck. Der Perspektivwechsel, also das Unternehmen von aussen nach innen zu denken, das wird zur neuen Führungsaufgabe in der digitalen Welt.
Aus Kundensicht zu denken, heisst für Sie demnach vor allem «weg mit Hierarchie und Plänen». Ist das nicht ein bisschen weltfremd?
Es wird immer Hierarchie geben, weil sie extrem schnell ist, solange es um Standards geht. Wo jedoch die Personalisierung den Standard verdrängt, stösst die Hierarchie an ihre Grenzen. Das erleben wir gerade in der Produktwelt, wo das individuell auf den Kunden zugeschnittene Produkt immer mehr zum Normalfall wird.
Die gängige Managerhaltung «Oben denkt, unten macht», ist in dieser Umgebung nicht zukunftsfähig. Sie ist zu starr und zu langsam. Für flexible kundenspezifische Lösungen und schnelle Innovation brauchen wir Projekte, Netzwerke und Co-Leadership für enge Zusammenarbeit. Führungskräfte sollten generell alles abschaffen, was den Blick nach draussen blockiert. Wer jedoch ins Extrem geht, und von totaler Selbstorganisation oder basisdemokratischen Unternehmen spricht, wird wirklichkeitsfremd.
Können Sie ein konkretes Beispiel geben, was Manager abschaffen sollten, damit es zu mehr Kundenfokus und Kooperation im Unternehmen kommt?
Zielvorgaben insgesamt sind kundenfeindlich. Und individuelle Zielvorgaben verhindern Kooperation – also die zentrale Idee eines Unternehmens. Zudem muss ich als Spitzenmanager hinterfragen, ob ich mit starren Budgetprozessen und langatmigen Reportings nicht nur gigantische Transaktionskosten erzeuge.
Das wird aber der Vertrieb zum Beispiel gar nicht gerne hören, da leben doch ganze Heerscharen vor allem von ihren Provisionen, die sich an Verkaufszahlen orientieren. Wie ginge das besser?
In digitalisierten Unternehmen geht es um Kooperation und ständiges Lernen. In einer dynamischen Arbeitswelt ist auch der Erfolg nicht planbar — zu rasch verändern sich die Märkte und überholen sich die Geschäftsmodelle. Eine individuelle Bonuskultur passt da nicht mehr.
Es geht nicht um individuelle Leistung, sondern um den gemeinsamen Erfolg. Also: Verscheuchen Sie die Beratungsindustrie, die Ihnen immer ausgefeiltere Individualmodelle verkauft. Unter digitalen Bedingungen des starken «Wir» haben individuelle Boni nichts zu suchen.
Welche Fähigkeiten muss eine Führungskraft mitbringen, um für die neuen Anforderungen fit zu sein?
Führung muss stärker als bisher mit Volatilität, Unschärfe, Komplexität und Uneindeutigkeit klarkommen. Dazu muss sie die nötigen Balancen und Leitunterscheidungen treffen.
Sorry, das klingt jetzt ziemlich nach Beraterjargon. Geht’s etwas konkreter?
Gern. Unternehmensgrenzen verschwimmen. Denken Sie an die Plattformindustrie. Sie verlangt sogar nach Kooperation mit bisherigen Wettbewerbern. Da stellt sich doch die Frage, wer gehört mit Blick auf Festangestellte, Honorarkräfte oder Zeitarbeiter im In- und Ausland eigentlich zu uns? Und wer ist gemeint, wenn von „wir“ die Rede ist?
Was ist daran denn so problematisch?
In hochgradig zentralistischen Unternehmen wie Google oder Facebook explodieren derzeit Identitätskonflikte. Dort bilden sich etliche Untergruppen innerhalb der Mitarbeiter, die Mikroideologien verfolgen.
Welche denn?
Männer versus Frauen, Alte gegen Junge, Befürworter des Weiter-so stossen auf extreme Querdenker, Effizienzverfechter treffen auf Innovationsapostel, Fans von Regierungskooperationen führen öffentliche Debatten mit internen Gegnern solcher Geschäfte, in der Kantine finden sich Fleischesser, Vegetarier, Veganer. Die Fragmentierung lässt sich beinah endlos fortsetzen.
Woher stammt dieser Hang sich abzugrenzen?
Aus der geopolitischen Entwicklung. Seit 1989 ist die grosse Spannung West gegen Ost vorbei, die für viele ja für Gut gegen Böse stand. Seitdem zerfleischen wir uns gesamtgesellschaftlich selbst. Und je zentralistischer unsere Welt organisiert ist, umso mehr besteht der Hang, sich wieder zu separieren und Unterschiede zu betonen. Das zeigt sich heute mit den nationalistischen und identitären Tendenzen weltweit sehr deutlich.
Wie bitte? Weil der Russe nicht mehr am Brandenburger Tor steht, spalten sich Unternehmen jetzt in Fleischesser und Veganer? Eine steile These …
Dass ein gemeinsames Feindbild eine Gesellschaft oder eine Organisation zusammenschweisst, ist ja nun nichts Neues. Wir haben es heute stattdessen mit unzähligen Mikrokonflikten zu tun, die sich durchaus bis ins Unternehmen hinein verlagern und die Führungskräfte klug moderieren müssen. Basta-Entscheidungen sind out. Führungskräfte müssen souverän das Sowohl-als-auch steuern.
Welche ungewohnten Entscheidungen fallen da typischerweise an?
Manager müssen etwa entscheiden, ob noch eine auf Dauer angelegte Organisation benötigt wird oder ob eine Übergangsstruktur wie ein Start-up oder ein Inkubator ausreicht, wenn es an Planbarkeit mangelt. Sie müssen definieren, was Langfristigkeit für ein bestimmtes Projekt bedeutet und es ihrem Team mit wechselnder interdisziplinärer Besetzung ermöglichen, zur Höchstform an Kreativität aufzulaufen.
Gleichzeitig trägt aber die Idee der einheitlichen Unternehmenskultur nicht mehr. Da lässt sich allenfalls noch von Bereichskultur sprechen. Es gibt Bereiche, die grosse Freiheitsspielräume brauchen, etwa in Kundennähe, und andere, in denen Kontrolle überlebenswichtig ist.
Da wird aber so manch erfahrener Manager einwenden, da bricht doch Chaos aus …
Wer so etwas sagt, ist nicht auf der Höhe der Komplexität, für deren Bewältigung er bezahlt wird. Dieser Typus des sicherheitssuchenden Managers ist nicht zukunftsfähig. Er hat kein Vertrauen in die Problemlösungsressourcen seiner Mitarbeiter.
So viel Ungewissheit und Experimentelles liegt aber nun mal nicht jedem.
Tatsächlich liegt das nur den wenigsten. Das ist ja das Paradoxe an der gegenwärtigen Situation: Die Digitalisierung scheint die Welt auf null oder eins zu vereinfachen, in Wirklichkeit aber erhöhen sich die Unschärfen dramatisch.
Muss man sicherheitssuchende Führungskräfte entlassen?
Ich empfehle ein anderes Vorgehen. Erst mal gilt es Institutionen zu schaffen, die Kundenfokus, Kooperation und Kreativität ermöglichen und ermutigen. Das wird etliche Führungskräfte dazu bringen, sich darauf einzulassen. Sollten Unternehmen dann noch Führungskräfte an wichtigen Stellen haben, die geradezu ein personifiziertes Dementi von Zusammenarbeit und Veränderung sind, dann sollte man sich von diesen trennen.
An welchen Unternehmen können sich Manager denn orientieren, wollen sie auch in zehn Jahren noch dabei sein?
Sich an Vorbilder zu klammern, geht für mich in die falsche Richtung.
Ach ja, warum denn?
Mehr denn je, gilt: Unterscheide dich oder stirb.
Jedes Unternehmen muss also seinen eigenen Weg finden?
Gerade unter Bedingungen der Digitalisierung und vom Markt her gedacht, muss ausschliesslich der Kunde der Massstab sein. Ich darf mich nicht am Wettbewerb orientieren oder an irgendwelchen noch so tollen Vorbildern à la Google, Apple oder Facebook. Die alle konnten ihr Unternehmen von Grund auf neu bauen. Wir aber müssen uns ändern. Das ist etwas grundsätzlich anderes.
Lässt sich die dazu nötige Kreativität überhaupt wecken in Organisationen, in denen bislang mit Kommando und Kontrolle geführt wurde?
Wichtiger Punkt. Kreativität ist in den meisten Unternehmen extrem unwahrscheinlich. Denn der Prozess des Organisierens hat ja gerade die Ausblendung von Kreativität zum Ziel. Um ihr überhaupt eine Chance einzuräumen, fährt man am besten zwei Systeme parallel: Neben dem alten, hierarchischen sollte man ein zweites, ein rechtfertigungsverschontes Territorium für Experimente einrichten.
Also so wie die Inkubatoren oder Start-ups für Digitalideen, die beispielsweise Siemens, Klöckner und EnBW installiert haben?
Ja. Ob dann aber schliesslich das komplette Unternehmen die entsprechende Mentalität entwickelt, dafür gibt es keine Garantie. Es ist auf jeden Fall ein langwieriger Prozess. Erfolg macht bekanntlich lernbehindert.
Hat die deutsche Wirtschaft denn Zeit für einen langsamen Wandel?
Das kann ihnen niemand seriös beantworten. Schwer abzuschätzen, was da vor allem aus dem Osten auf uns an Konkurrenz zukommt.
Sie meinen aus Asien, nicht aus dem Silicon Valley?
Ja, der Westen ist für mich eher Old Economy. Wie auch Deutschland: Ingenieurgetrieben, technikverliebt und methodengeleitet. Wir bauen neue Elektromotoren in alte Autos. Nur wer am Alten festhalten will, kommt auf die Idee, Abgaswerte zu manipulieren.
Mehr Infos zu den ZfU Führungs-Seminare mit Dr. Reinhard Sprenger finden Sie hier>